Samstag, 21. November 2015

"Der Müll stellt für uns eine neue Dimension dar"

Der AWI-Biologe Dr. Lars Gutow hat sich viele Jahre lang mit den Überlebensstrategien und dem Stoffwechsel von Meeresorganismen wie zum Beispiel Asseln befasst. In letzter Zeit beschäftigt ihn zunehmend die Frage, wie Kunststoffabfälle auf die Meeresorganismen und Meereslebensräume wirken. Im Interview erzählt er von seinen Forschungsfahrten in der Nordsee und der Sargassosee, auf denen er untersucht hat, wie sich der Müll im Meer ausbreitet.
AWI-Meeresbiologe Dr. Lars Gutow (Foto: Sina Löschke)
Der Plastikabfall im Meer ist allgegenwärtig. Viele Menschen haben selbst schon Müll am Strand gefunden. Dennoch scheint die Forschung wenig darüber zu wissen. Stimmt das?
Ja, das ist richtig. Im Grunde stehen wir ganz am Anfang. Zwar hat die Zahl der wissenschaftlichen Studien in den vergangenen Jahren rapide zugenommen. Doch meist liefern diese nur punktuelle Daten aus einzelnen Meeresregionen. In vielen Fällen müssen wir uns heute noch mit Schätzungen behelfen – etwa bei der Frage, wie viel Müll im Meer treibt. Die Quantifizierung von Müll im Meer ist sehr aufwendig. Die Wassertemperatur und der Salzgehalt lassen sich zum Beispiel mit speziellen Bojen automatisch messen. Um die Mülldichte im Meer zu ermitteln, muss man aber hinausfahren und vor Ort zählen.

Sie waren selbst mit Forschungsschiffen unterwegs, um Müll zu erfassen. Wie läuft eine solche Erfassung ab?
Es gibt verschiedene Methoden. Wir zum Beispiel beobachten einen zehn Meter breiten Streifen der Wasseroberfläche längs des Schiffes. Während das Schiff fährt, zählen wir in diesem Streifen die vorbeitreibenden Müllteile. Das erfordert ein wenig Übung. Kleine Flecken aus Meeresschaum zum Beispiel sind Plastikbruchstücken zum Teil verblüffend ähnlich. Aber nach einer Weile bekommt man einen Blick dafür. Mit dieser Methode haben wir unter anderem die erste systematische Müllerfassung auf der südöstlichen Nordsee gemacht.
Eine weggeworfene Zigarettenschachtel, welche die Nordsee
an Strand des Küstenortes St. Peter-Ording gespült hat. (Foto: Thomas Ronge)
Natürlich kann man mit dem bloßen Auge nur Müllteile erfassen, die mindestens einige Zentimeter groß sind. Mikroskopisch kleine Objekte, wie das sogenannte Mikroplastik, können wir auf diese Weise natürlich nicht zählen. Dazu benötigen wir andere, zum Teil sehr aufwendige Analysemethoden, mit denen sich mein AWI-Kollege Gunnar Gerdts befasst.

Darüber hinaus waren Sie in der Sargassosee unterwegs, die östlich von Kuba im Atlantik liegt. Gibt es im Hinblick auf den Müll Unterschiede zwischen der Nordsee und der Sargassosee?
Allerdings. Die Nordsee ist stark von Handelsschiffen befahren und liegt nahe am dicht besiedelten Festland. Deshalb findet man viel jungen Müll, den man noch gut erkennen kann. Wir können die Objekte beispielsweise ganz deutlich als Flaschen oder Verpackungsfolien von Schokoriegeln identifizieren. Im Durchschnitt haben wir auf einem Quadratkilometer Nordsee ungefähr 30 bis 35 Müllteile gefunden. Dabei schwankten die Angaben zwischen einzelnen Zählungen jedoch erheblich.

Die Sargassosee hingegen gehört zu den großen Garbage Patches, jenen Meereswirbeln, die weit draußen in den Ozeanen liegen, und in denen sich der Müll ansammelt. Es dauert lange, bis er das Zentrum des Wirbels erreicht. Der Müll ist dann bereits stark zerfallen. Häufig ist nicht mehr zu erkennen, um welches Objekt es sich ursprünglich gehandelt hat. Wir haben dort vor allem kleine Plastikbruchstücke von wenigen Zentimetern Größe gefunden – im Durchschnitt 50 bis 60 Müllteile pro Quadratkilometer. Im Vergleich mit der Nordsee wird also deutlich, wie sich der Müll in diesem Wirbel ansammelt. Außerdem können wir dort sehen, wie der Müll mit der Zeit verwittert – das heißt, wie er in immer kleinere Plastikbruchstücke zerfällt.

Können Sie aufgrund Ihrer Beobachtungen abschätzen, wie sich der Müll auf den Lebensraum Meer auswirkt?
Auch das ist noch immer schwer zu sagen. Eine aktuelle Studie zeigt, dass schon heute 90 Prozent aller Seevögel Plastikteile verschlucken. Je nach Fressverhalten sind verschiedene Vogelarten unterschiedlich stark gefährdet. Besonders kritisch scheint die Situation bei den Eissturmvögeln zu sein, die ihr gesamtes Leben auf Hoher See verbringen und ihre Nahrung ausschließlich von der Meeresoberfläche picken. Untersuchungen toter Tiere zeigen, dass die Mägen zum Teil komplett mit Plastikteilen gefüllt sind. Selbst Eissturmvögel aus der Arktis haben mittlerweile Plastik in ihren Mägen, was nicht verwundert, denn meine AWI-Kollegin Melanie Bergmann hat festgestellt, dass auch in der Arktis Müll an der Wasseroberfläche treibt. In der Tiefe ist die Müllkonzentration dort sogar noch höher.
Ein Knäuel aus Fäden und Schnüren (Foto: Melanie Bergmann)
Ich selbst habe zusammen mit chilenischen Kollegen eine ganze Reihe wissenschaftlicher Studien analysiert, die sich damit befassen, inwieweit sich der im Meer treibende Plastikmüll auf die Verbreitung von Meerestieren auswirkt. Er stellt zweifellos eine neue Dimension dar. Schon immer gab es Treibgut wie etwa Algen, Holz oder Bimsstein, an dem sich Meerestiere angeheftet haben und so über große Distanzen transportiert wurden. Kunststoffmüll aber ist besonders lange haltbar. Und er kommt praktisch überall in relativ großen Mengen vor. Unsere Analyse zahlreicher Studien hat ergeben, dass man bis heute weltweit 387 verschiedene Arten beziehungsweise nicht näher bestimmte Organismen auf treibendem Plastikabfall gefunden hat – dazu zählen Bakterien und andere Einzeller, Algen, Moostierchen, Muscheln, Schnecken, Seepocken oder auch Flohkrebse.

Worin besteht der Unterschied zu herkömmlichem Treibgut?
Zum einen ist es die schiere Menge der Kunststoffe im Ozean. Zum anderen ist die Oberfläche des Plastiks abgesehen von Styropor meist viel glatter als die des natürlichen Treibguts, sodass sich andere Organsimen ansiedeln. Außerdem bietet das schwimmende Plastik, anders als beispielsweise treibende Algen, die von manchen Meerestieren gefressen werden, keine Nahrung. Auch aus diesem Grund können sich auf dem Kunststoff nur bestimmte Organismen ansiedeln.
Das Ergebnis einer Müllsammlung in der Tiefsee des Pazifischen Ozeans (Foto: Antje Boetius)
Die Unterschiede werden besonders im Vergleich mit dem Sargassotang deutlich. Der Sargassotang ist eine fein verästelte Algenart, die in großen Mengen an der Meeresoberfläche der Sargassosee aber auch anderer Meeresgebiete treibt und dort große natürliche Flöße bildet. Sie hat der Sargassosee ihren Namen gegeben. Der Wind treibt die Pflanzen oftmals zu langen Streifen und großen Feldern aus treibendem Tang zusammen. Darin leben viele Kleinkrebse und andere Organismen wie etwa die Kolumbuskrabbe. Diese hat sich so auf das Leben auf Treibgut spezialisiert, dass sie nur dort, nicht aber auf dem Meeresboden vorkommt. Die Lebensgemeinschaft auf dem treibenden Sargassotang ist einzigartig und unterscheidet sich sehr vom Aufwuchs auf treibendem Plastik.

Während unserer Forschungsfahrt durch die Sargassosee haben wir festgestellt, dass der Kunststoffabfall trotz seiner großen Menge nur einen Bruchteil allen Treibgutes ausmacht. Allerdings scheint er die Lebensgemeinschaft der Sargassosee deutlich zu verändern, da er völlig anderen Arten einen sehr beständigen Lebensraum bietet - zum Beispiel bestimmte Polypentiere, Manteltiere und Entenmuschel-Arten, die auf den treibenden Sargasso-Algen nicht siedeln.

Seit einigen Jahren beschäftigen sich Meeresbiologen auch mit dem Phänomen der Verschleppung von Arten aus einem Meeresgebiet der Erde in ein anderes – der Bioinvasion. Könnte der Plastikabfall in dieser Hinsicht zum Problem werden?
Es wurden in verschiedenen Fällen schon Plastikteile an der Westküste der USA gefunden, an die sich Organismen aus japanischen Gewässern angeheftet hatten. Viele der Organismen überleben die Reise über den Pazifik nicht. In der Folge des großen Tsunamis an der japanischen Küste im Jahr 2011 aber, der sehr viel Material ins Meer gespült hatte, wurde an der US-Küste viel Treibgut gefunden, das häufig von artenreichen und sehr vitalen Tier- und Pflanzengemeinschaften besiedelt war. Um beim Tang zu bleiben: Wir wissen, dass dieser selten bis in die Tropen treibt, sondern überwiegend in mittlere und höhere Breiten wandert.

Das ist ein Beispiel dafür, dass die Verbreitung durch natürliches Treibgut ihre Grenzen hat. Der Plastikabfall aber kommt überall vor und scheint alle bekannten Grenzen zu überwinden. Wir sind davon überzeugt, dass er die Verbreitung von Arten revolutionieren wird. Auch wenn es bislang kein Beispiel für eine invasive Art gibt, die nachweislich durch Plastikmüll eingeschleppt wurde.

Können Sie das Risiko einer Einschleppung von Arten heute schon einschätzen?
Das können wir nicht, weil wir im Grunde noch gar nicht wissen, wie sich der Plastikmüll im Meer verhält. Styropor, das auf dem Wasser liegt, rollt und wird vom Wind getrieben. Eine Plastiktüte, die im Wasser schwebt, verhält sich ganz anders. Vieles deutet darauf hin, dass sich Müll durch Winde, Strömungen oder Fronten im Meer an bestimmten Stellen konzentriert. Wir müssen noch viel mehr darüber erfahren, wie lange sich Müll in einem bestimmten Meeresgebiet aufhält.
Müll auf arktischem Meereis (Foto: Melanie Bergmann)
Eines meiner Ziele ist es, mit Hilfe ozeanographischer Computermodelle das Verhalten und die Verbreitung von Müll im Meer über Tage, Wochen oder Monate genau zu verfolgen oder gar vorherzusagen. Für große Meeresgebiete und großräumige Strömungen ist das bereits möglich. In Küstengewässern aber sind die Strömungen häufig sehr komplex, sodass genaue Vorhersagen hier sehr schwierig sind. Aufgrund von Untersuchungen mit Bodenschleppnetzen ist seit längerer Zeit bekannt, dass sich in einem Areal rund 200 Seemeilen vor der dänischen Küste am Meeresboden große Mengen Müll ansammeln. Wir wissen aber nicht warum. Es gibt Erklärungsversuche, aber oft stellen wir fest, dass sich der Müll ganz anders verhält, als wir erwartet haben.

Müllstudien meiner chilenischen Kollegen zeigen, dass die Gestalt der Küste und kleinräumige Strömungen vor Ort eine wichtige Rolle bei der Verbreitung des Plastikmülls spielen. Wir wissen aber beispielsweise kaum, wie Wind, Wellen und Seegang zusammen das Verhalten und die Verbreitung verschiedener Müllgegenstände beeinflussen.

Im Sommer 2015 wurde auf der Insel La Reunion ein Wrackteil der im März 2014 vor Australien abgestürzten Malaysia-Air-Maschine gefunden. Ozeanographen haben versucht, durch Strömungssimulationen den bis heute unbekannten Absturzort der Maschine zu errechnen. Sind ähnliche Methoden für den Müll denkbar?
Solche Strömungssimulationen werden vielfältig angewendet, beispielsweise um die Ausbreitung oder den Ursprung von Schadstoffen oder Öl im Meer zu simulieren. Entsprechend kann das auch auf Müll angewendet werden, der an der Meeresoberfläche treibt. Diese Methoden eignen sich aber nur für große Meeresgebiete.

In den vielgestaltig geformten Küstengewässern mit ihren komplexen Strömungsbedingungen ist es jedoch extrem schwierig, auf diese Weise den genauen Ursprungsort von Müllobjekten zu identifizieren. Was den Plastikabfall betrifft, wissen wir ja noch nicht einmal, wie lange sich ein Plastikteil überhaupt im Meer befindet. Müll, der einmal an die Küste gespült wurde, verbleibt dort nicht zwangsläufig. Mit der nächsten Flut kann er bereits wieder ins Meer gespült werden und seine Reise fortsetzen. Dieser Umstand macht es nahezu unmöglich, den ursprünglichen Herkunftsort exakt zu rekonstruieren. Durch Materialanalysen könnte man allenfalls herausfinden, wann ein Plastikteil gefertigt wurde, nicht aber, wann es ins Meer gelangt ist. Um den Müll zu verstehen, müssen wir noch sehr viel lernen.

Quelle: Alfred-Wegener-Institut